„Wir brauchen eine europäische Identität!“ – Sven Giegold spricht in Unna

Bundestagskandidat Michael Sacher und Sven Giegold, MdEP

Unna.  Am letzten Samstagabend 20:00 Uhr, nicht gerade eine günstige Zeit für politische Veranstaltungen – und draußen herrscht Biergartenwetter. Trotzdem versammeln sich ca. 45 Politikinteressierte in Unnas SpontUN, um Sven Giegold, prominentes Grünes Mitglied im Europaparlament, zu treffen. Der in Hannover aufgewachsene Giegold ist Ende Vierzig und hat Attac mit gegründet und geprägt, bevor er die Grünen seit 2009 in Brüssel vertritt.

Die Zivilgesellschaft europäisieren: das ist das Motto, unter das Sven Giegold den vom Grünen Bundestagskandidaten Michael Sacher moderierten Abend stellt. Es gebe einen Gegensatz zwischen der Wahrnehmung der EU als eines von Lobbyisten beeinflussten, bürokratischen Molochs und dem, was die EU für uns leiste. Beispiel Dieselskandal: Schon 2007 hat die EU strengere Umweltrichtlinien für Dieselfahrzeuge beschlossen. Das wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und so fiel diese aus allen Wolken, als nun die Manipulationen der Autoindustrie ans Tageslicht kamen. Giegold beklagt, dass es keine wirksame europäische Presse gebe; die meisten Nachrichten betreffen immer noch das einzelne Land, obwohl viele Richtlinien in Brüssel gemacht werden. Und da liegt dann auch der Hase im Pfeffer.  Eine gemeinsame Migrations-und Flüchtlingspolitik, offene Grenzen und Niederlassungsfreiheit, Asylstandards, all das ist vorhanden, nur wird es von vielen Einzelstaaten nicht umgesetzt, da sie ihre nationalen Interessen verletzt sehen. Apropos nationale Interessen: der Populismus von Rechts und Links täusche vor, das man nur die nationale Kontrolle zurückbekommen müsse, um die Probleme dieser Welt zu lösen.  Für Giegold ein gewaltiger Irrtum, denn wie will ein einzelnes Land Steueroasen austrocknen und die digitale Vernetzung regeln?  Der Grüne Jan-Philipp Albrecht war der wichtigste Politiker bei der Durchsetzung der EU-Datenschutz-Grundverordnung, bei der er gegen massiven Widerstand der US-amerikanischen IT-Lobby kämpfen musste. Auch das Pariser Klimaabkommen sieht Giegold als großen Erfolg, den es ohne die EU nicht gegeben hätte. Das Erasmus-Austauschprogramm für Studierende sei ein ganz wichtiger Baustein, die europäische Identität im Leben einzelner Menschen auszubilden. Das müsse weiter auf andere Bereiche, z. B. die Lehrberufe, ausgedehnt werden.

In der Diskussion wurde auch Unbehagen laut.  Wie steht es mit dem West-Ost- und dem Nord-Südgefälle innerhalb der EU? Ging die Osterweiterung zu schnell? Wirtschaftliche Ungleichheit will Sven Giegold durch eine solidarisch finanzierte Investitionspolitik ausgleichen. Es brauche einen Zukunftsfond, der vernachlässigte Gemeinschaftsprojekte wie die einer wirklich europäischen regenerativen Energieversorgung ebenso wie grenzübergreifende umweltfreundliche Verkehrsflüsse finanziere. Und da kritisiert er dann die CDU-geführte Bundesregierung. Alles sei zur notwendigen Rettung des Euros getan worden, viel zu wenig aber für Programme, die die Folgen der geforderten Sparpolitik ausgleichen. Giegold verteidigt die schnelle Osterweiterung; er mag sich den russischen Einfluss in einer bündnisfreien Zone nicht vorstellen. Er kritisiert die lasche Haltung der EU gegenüber Vertragsverletzungen zum Beispiel in Ungarn, in dem diese gegen die demokratiefeindliche Politik von Viktor Orbán kein Verfahren eröffnet, weil dessen Partei sich in Fraktionsgemeinschaft mit der CDU/CSU befindet.

Ein Resümee des Abends drückt sich zum einen im von Sven Giegold mehrfach geäußerten Lob für die zivilgesellschaftliche Initiative „Puls of Europe“ aus, deren parteiunabhängige Unnaer Mitbegründerin anwesend war. Zum anderen aber auch im Appell, die Grünen bei der Bundestagswahl möglichst stark zu machen – eben um ein ökologisches und soziales Europa voranzubringen.

Am Ende belohnt Michael Sacher den Referenten mit einem Exemplar des Romans „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse. Der Schriftsteller wandelte sich vom Europakritiker zum Fan der Gemeinschaft; eine Entwicklung, die wir für alle erhoffen, die in der nationalen Begrenzung das vergebliche Heil suchen.

Manfred Hartmann, 27.08.2018

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