Patrick Bauers Buch über die Geschichte des 4. November 1989 in der DDR habe ich fast in einem Rutsch gelesen. Das allein macht noch kein gutes Buch aus und deshalb lohnt es sich für mich anzuschauen, warum es wirklich ein gutes Buch ist.
Der entscheidende Tag für den Zusammenbruch der DDR wird traditionell auf den 9. November 1989 datiert, den Tag also, an dem Günter Schabowski in einer Pressekonferenz etwas holprig die Reisefreiheit „ab sofort“ ankündigt. Das hatte die beeindruckenden Bilder zur Folge, die uns allen aus dem Fernsehen präsent sind. Wer aber erinnert sich an die große Demonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin (Ost), die fünf Tage vorher stattfand? Künstlerinnen und Künstler haben sie organisiert und Hunderttausende an ihr teilgenommen.
Patrick Bauer rekonstruiert den Tag und seine Vor- und Nachgeschichte minuziös. Aus Interviews mit Zeitzeugen und eigenen Recherchen wird die Zeit wieder lebendig, zu der sich Intellektuelle erstmals trauen, in einer genehmigten Demonstration öffentlich zu sagen, dass es eine Zeitenwende geben muss, dass dieser Staat DDR, der durch Gorbatschow und die Fluchtbewegungen über die ungarische Grenze mächtig unter Druck steht, seinen Bürgern und Bürgerinnen nun endlich Demokratie und Menschenrechte einräumen muss. Die Organisatoren der Demonstration haben ein hohes Risiko auf sich genommen; Egon Krenz, der Nachfolger Erich Honeckers, hatte noch im gleichen Jahr eine gewalttätige „chinesische Lösung“ nicht ausgeschlossen. So wusste man nicht, ob Panzer auffahren würden. Aber es war eben auch jener Krenz, der den Schusswaffengebrauch untersagte.
Die Rednerinnen- und Rednerliste liest sich wie ein Who-is-Who der DDR-KulturIntelligenzia. Die Schriftstellerin Christa Wolf ist dabei, die Brecht-Schauspielerin Steffi Spira, deren Vater von den Nazis umgebracht wurde, der in Ungnade gefallene Ex-Stasi-Chef Markus Wolf, der Theologe Friedrich Schorlemmer, die Schriftsteller Christoph Hein, Heiner Müller und Stefan Heym, die Theatermänner Jan Josef Liefers und Ulrich Mühe, der Anwalt Gregor Gysi, Liedermacher und viele andere. Vom Zentralkomitee der SED traut sich nur Günter Schabowski, wohl wissend, dass ihm der Auftritt Buh-Rufe und Pfiffe bringen wird. Viele Beiträge sind von großer rhetorischer Kraft – selten aber wird die Stimme laut. Es herrscht ein eher nachdenklicher Tonfall. Herausragend in ihrer Poetik sind die Statements von Christa Wolf und Steffi Spira. Man kann sie auf Youtube sehen und hören, Wolf über https://youtu.be/SSk-ytE9c20 und Spira https://youtu.be/QKYeCkcOBYA. Niemand redet an diesem Tag über das Ende der DDR, die Mauer ist noch geschlossen. Man will Freiheit des Wortes, Freiheit der Reise und einen entstalinisierten Sozialismus. Wie wir wissen, lief nach dem 9. November alles ganz anders. Aus „Wir sind das Volk!“ wurde „Wir sind ein Volk!“ und die Wiedervereinigung, von der der Historiker Christian Meier kürzlich im Deutschlandfunk als „Anschluss“ an die Bundesrepublik spricht. Es nützt nichts, dazu heute noch gute Ratschläge zu geben, aber wer verstehen will, dass die DDR durchaus ihren eigenen Reformwillen hatte, der tut gut daran, dieses Buch zu lesen.
Wahrscheinlich haben die Probleme von heute, auch der Rechtsruck, mit diesem eiligen Bruch zu tun, der viele überfordert hat. Im Westen hatte man einfach länger Zeit, mit den Verwerfungen der Nachkriegszeit klarzukommen. Aber das sind Spekulationen je nach eigener Anschauung.
Patrick Bauer hat einige damalige Protagonisten heute aufgesucht und sie zu Lust und Frust der Wende befragt. Dabei hat mich am meisten Róbert Juharos erstaunt, der 1989 als Student aus Budapest dem „Bund Junger Demokraten“ nahestand, einer liberale Organisation, welcher auch ein Mann mit dem Namen Viktor Orbán angehörte. Was aus Fidesz und Orban geworden ist, wissen wir heute und Juharto selbst saß für diese Partei im ungarischen Parlament.
Geschichte ist also nie ganz schwarz und nie ganz weiß, meist ist sie grau wie dieser 4. November 1989 in Berlin. Dazu passt dann auch das Zitat von Rio Reiser, das dem Buch seinen Titel gibt.
Bauer, Patrick: Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird. Der 4. November 1989 und seine Geschichte. Hamburg: Rowohlt, 2019. ISBN 978-3-49800151-3. – 20 Euro (im Buchhandel oder als Anschaffungswunsch an die Bibliothek).
Manfred Hartmann
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