Buchempfehlung von Chris Kreis
Das letzte Buch, das ich von Ulrike Edschmid las, schildert das Zusammenleben mit ihrem früheren Lebensgefährten in einer Wohngemeinschaft in Berlin, Philip S., der sich nach dem Tod von Holger Meins radikalisiert und sich der „Bewegung 2. Juni“ anschließt. 1975 wird er bei einem Schusswechsel mit der Polizei erschossen. Traumata sind wohl Edschmids Thema.
In ihrem neuen Buch, „Die letzte Patientin“geht es um den Lebensweg einer Freundin, die in den 70er Jahren in ihre Wohngemeinschaft in Frankfurt zog und zu der sie über 40 Jahre in engem Kontakt stand, mit Briefen und später digital. Diese namenlose Frau, “Sie“, treibt auf der Suche nach Zugehörigkeit, Heimat, emotionaler Wärme durch die Welt. Zunächst folgt sie einem spanischen Anarchisten nach Barcelona, dann Nord-, Süd- und Mittelamerika. Sie erlebt ständig enttäuschende Beziehungen , macht gewaltvolle Erfahrungen. Wenn es schön ist, hält sie es nicht aus.
Der Klassiker „Die Kunst des Liebens“ von Erich Fromm ist ihr Schlüsselerlebnis: sie geht zurück nach Europa, nach Barcelona, wo sie sich ein Zuhause schafft und spätberufen ein Psychologiestudium beginnt, Schwerpunkt Traumatherapie. Über eine Organisation wird ihr eine sehr junge, schwer traumatisierte Patientin vermittelt. Sie wird ihre „letzte Patientin“, denn im Verlauf der – unrealistisch langen – Therapie erkrankt die Psychotherapeutin an Krebs. Die Beziehung, die sich zwischen ihnen entwickelt, ist für beide heilsam, wenn auch der Krebs wiederkommt.
Ob die Ich – Erzählerin einen biographischen Bezug zu Ulrike Edschmid hat, bleibt ungesagt, liegt aber nahe: „Als eines Nachts unsere Wohnung gestürmt wird, steht sie im geblümten Kindernachthemd aus Flanell vor den bewaffneten Polizisten …mit ausgebreiteten Armen vor der Tür des Kinderzimmers, in dem mein Sohn schlief…“ verweist auf „Das Verschwinden des Philip S.“, siehe oben. Als Ich – Erzählerin bleibt sie im Hintergrund.
Das Buch ist fesselnd, schmal – nur 110 Seiten – in knappen Sätzen, jedes Kapitel eineinhalb Seiten. In der Sprache teilweise sehr hart, kühl, sezierend, unsentimental. Ich habe es auf einer Reise begonnen und nicht mehr aus der Hand gelegt. Mit so wenig Text so viel sagen zu können!
Roman, Suhrkamp 2023